Girl-Kultur

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Girl-Kultur, 2019
Installation view, Staatsgalerie Stuttgart

GIRL-KULTUR

Girl-Kultur, 2019
Teppich, Wolle/Baumwolle
300 x 290 cm

Ein wichtiges Schlagwort des Neuen Bauens war das der Rationalisierung, das im Innenraum vor allem in der Küche radikale Neuerungen mit sich brachte. Christine Frederick, eine US-amerikanische Expertin für ökonomische Haushaltsführung, wandte in den 1910er-Jahren den Taylorismus auf die Küchengestaltung an und vermittelte ihre »Efficient Kitchen Arrangements« mit Grundrissen, in denen sie die Gänge zwischen den unterschiedlichen Gerätschaften in Form von Linien einzeichnete. In der Stuttgarter Ausstellung Die Wohnung fanden diese grafischen Studien in mehreren Projekten ihren Niederschlag: Bruno Tauts Beitrag für die Weissenhofsiedlung basierte auf einem Prototyp für ein Einfamilienkleinhaus, das der Architekt 1925 in seinem von Fredericks Arbeiten inspirierten Buch Die neue Wohnung. Die Frau als Schöpferin veröffentlicht hatte. Außerdem präsentierte Erna Meyer, die Autorin des 1926 erschienenen Buchs Der neue Haushalt, mehrere zweckmäßig eingerichtete Modellküchen. Bei diesen handelte es sich um (kritische) Weiterentwicklungen der von der Architektin Margarete Schütte-Lihotzky entworfenen Frankfurter Küche, die in Stuttgart ebenso vorgestellt wurde. Am Bauhaus wurde die Rationalisierung der Bewegung vor allem unter dem technisch-wissenschaftlich geprägten Direktorat Hannes Meyers von 1928 bis 1930 propagiert. In seiner Antrittsvorlesung stellte Meyer klar: »wir untersuchen den ablauf des tageslebens jedes hausbewohners, und dieses ergibt das funktionsdiagramm für vater, mutter, kind, kleinkind und mitmenschen.«

In Girl-Kultur (der Titel der Arbeit geht auf das gleichnamige Buch aus dem Jahr 1925 des in Stuttgart wirkenden Psychologen Fritz Giese zurück) greift Michaela Melián diese unterschiedlichen Fäden – oder Linien – einer »zweckmäßigen« Bewegung auf und verwebt sie miteinander zu einer Installation, die dem Raum nun einen »unaufgeräumten« und der Bewegung einen ziellosen Charakter verleiht. Der gewebte Teppich im Zentrum von Meliáns Arbeit ist ein Verweis auf die Weberei, die am Bauhaus als der Ort für die weiblichen Studierenden verstanden wurde. Seine Größe basiert exakt auf dem Grundriss der Küche im Doppelhaus von Le Corbusier und Pierre Jeanneret in der Weissenhofsiedlung Stuttgart. Er zeigt kein rationelles Bewegungsdiagramm wie bei Christine Frederick, Erna Meyer, Margarete Schütte-Lihotzky oder Hannes Meyer, sondern überlagert diese mit weiteren Zeichnungen von Le Corbusier, Alexander Klein und Johannes Itten zu einem Gewirr aus Linien.

Mit ihrer Installation blickt Michaela Melián kritisch auf die streng formulierten Befreiungsversuche der Moderne. Die »zweckmäßige Küchengestaltung« bedeutete durchaus kein Überdenken der Geschlechterrollen im Haushalt, sie bedeutete schlicht eine Alternative zum Dienstmädchen, weil die Frau der Familie nun auf eine vermeintlich ökonomische Art und Weise selbst kochen und spülen konnte. Außerdem wurden die ermüdenden Bewegungen für den weiblichen Körper in der Küche vielleicht reduziert, zeitgleich instrumentalisierte man ihn jedoch, um mit ihm das Neue Bauen und/oder die technischen Innovationen in Szene zu setzen. Dennoch lohnt es sich, gesellschaftliche Entwicklungen wieder stärker vor dem Hintergrund der Innenräume unserer Häuser und Wohnungen zu betrachten. Die Vertreterinnen und Vertreter des Neuen Bauens planten ihre Grundrisse so, dass man möglichst wenig Zeit in der Küche verbringen musste – in einigen Fällen wurde sogar über kollektive Strukturen nachgedacht. Heute besteht das Ideal hingegegen oft in der großen, mit ausladenden Arbeitsflächen ausgestatteten Küche als Nukleus der »eigenen vier Wände«.

Christian Sander, Weissenhof-City, 2019, Staatsgalerie Stuttgart